09.07.2025

Wie funktioniert die Koordination der Sozialversicherungen im Invaliditätsfall?

Die Koordination der verschiedenen Sozialversicherungen gestaltet sich zwar komplex, folgt letztlich aber einem klaren Aufbau, der die unterschiedlichen Invaliditätsformen von Mitarbeitenden abbildet. Arbeitgeber sollten die einschlägigen Mechanismen kennen, um für etwaige Ansprüche ihrer Mitarbeitenden vorzusorgen und um deren Einkommen im Invaliditätsfall sicherzustellen.

Das schweizerische Sozialversicherungssystem beruht auf mehreren Säulen, die sich gegenseitig ergänzen. Dieses Konzept gewährleistet eine umfassende Abdeckung bei Unfall oder Krankheit, erweist sich aber besonders dann als komplex, wenn es um die Koordination von Leistungsansprüchen geht: Welche Versicherungen kommen bei Invalidität eines Angestellten zum Tragen? Nach welcher Prioritätenordnung? Und in welchem Verhältnis? Der folgende Artikel dient dem besseren Verständnis darüber, wie die verschiedenen Sozialversicherungen Invaliditätsfälle handhaben, um eine angemessene Entschädigung der betroffenen Personen zu gewährleisten und um eine Überentschädigung zu verhindern.

 

  1. Was ist unter Invalidenversicherung (IV) zu verstehen?
  2. IV und Unfallversicherungen
  3. IV und Krankenversicherung
  4. IV und berufliche Vorsorge
  5. Hilflosenentschädigung

 

1. Was ist unter Invalidenversicherung (IV) zu verstehen?

Nach schweizerischem Verständnis gilt eine Person dann als invalide, wenn sie aufgrund einer körperlichen, psychischen oder geistigen Beeinträchtigung nicht mehr oder nur noch teilweise arbeiten kann. Meistens tritt Invalidität infolge eines Unfalls oder einer Krankheit auf. Wenn die Erwerbsunfähigkeit mindestens 40% beträgt und mindestens ein Jahr gedauert hat, ist die Invalidenversicherung (IV) zuständig und kann eine nach dem Invaliditätsgrad abgestufte IV-Rente genehmigen.

Bei ihrer Beurteilung berücksichtigt die Invalidenversicherung nicht nur die medizinische Diagnose, sondern klärt auch ab, inwiefern die betreffende Person in einem anderen Beruf oder mit entsprechender Unterstützung, beispielsweise durch Umschulung, Eingliederungs- oder Betreuungsmassnahmen, ein Erwerbseinkommen erzielen könnte.

Mehr zu den Leistungen der Invaliditenversicherung (IV)

Die Berechnungsgrundlage für die Höhe der Invalidenrente ist gleich wie bei der AHV-Rente. Massgebend sind das Einkommen und die Anzahl der Beitragsjahre: Wer ab dem 20. Altersjahr lückenlos AHV-Beiträge eingezahlt hat, kann ungeachtet der Anzahl Jahre, während derer er oder sie gearbeitet hat, Anspruch auf eine Vollrente nach Skala 44 erheben.

 

Leistungskoordination: komplex, aber unverzichtbar

Über den Anspruch auf Invaliditätsleistungen entscheidet in der Schweiz jede Sozialversicherung selbst. Um zu verhindern, dass das Renteneinkommen einer invaliden Angestellten über dem Einkommen zu liegen kommt, welches sie erzielt hätte, wenn sie ihre Erwerbfähigkeit beibehalten hätte, wurden komplexe, aber unverzichtbare Regeln zur Leistungskoordination eingeführt. Diese dienen hauptsächlich der Vermeidung von Überentschädigung: Die Kumulation der Leistungen soll den mutmasslich entgangenen Verdienst nicht übersteigen.

Das Thema ist umso heikler, da die Reserven der IV unter das gesetzliche Minimum von 50 % gefallen sind und eine Reform in Gange ist, um den Anstieg der Renten – insbesondere bei den Jüngeren – zu begrenzen und die Verschuldung der IV zu verringern.

2. IV und Unfallversicherungen

Bei unfallbedingter Erwerbsunfähigkeit eines Angestellten kann die obligatorische Unfallversicherung (UVG) ab einem Invaliditätsgrad von 10% eine Komplementärrente gewähren.

Dabei gilt:

  • Wenn der Invaliditätsgrad zwischen 10% und 40% liegt, wird nur die Rente der Unfallversicherung ausgerichtet. Sie wird im Verhältnis zum auf 80% des versicherten Verdienstes (d.h. des Jahresverdienstes vor dem Unfallzeitpunkt) angewandten Invaliditätsgrads festgesetzt.
  • Wenn der Invaliditätsgrad mindestens 40% beträgt, trifft die UVG-Rente mit der IV-Rente zusammen und wird zur Komplementärrente, sofern die Summe der Leistungen 90% des versicherten Verdienstes nicht übersteigt. Andernfalls wird die Rente der Unfallversicherung entsprechend gekürzt.

Beispiel: Ihr Mitarbeiter erleidet einen Unfall

NETTOJAHRESEINKOMMEN CHF 50’000.- ANMERKUNGEN
ANNAHME 1
a. Resterwerb mit IV-Grad 30 % CHF 35’000.- Pensum auf 70% reduziert
b. IV-Rente CHF 0.- Kein Anspruch auf IV-Rente
c. UVG-Rente + CHF 12’000.- CHF 50’000.- x 80 % x 30 %
TOTAL CHF 47’000.-
ANNAHME 2
Einkommen mit IV-Grad 75 % Invalidität anerkannt
a. IV-Vollrente gemäss Skala 44 CHF 23’952.- CHF 50’000.- = Monatsrente 1’996.- x 12
b. UVG-Rente + CHF 21’048.- CHF 50’000.- x 90 % – CHF 23’952.-
TOTAL CHF 45’000.-  

 

3. IV und Krankenversicherung

Wenn die Invalidität infolge Krankheit eintritt, findet eine Abstimmung zwischen der IV-Rente und den Leistungen einer gegebenenfalls vorhandenen Erwerbsausfallversicherung bei Krankheit (EO) statt. Letztere entrichtet während höchstens 24 Monaten Taggelder. Danach treten IV und berufliche Vorsorge in Konkurrenz.

Zur Vermeidung der Überentschädigung sieht das Reglement der Erwerbsausfallversicherungen in der Regel eine Kürzung der Taggelder vor, sobald die versicherte Person eine IV-Rente bezieht.

 

4. IV und berufliche Vorsorge

Sobald der Anspruch auf Taggelder der Erwerbsausfallversicherung bei Krankheit erlischt, entsteht potenziell eine Konkurrenz zwischen der IV-Rente und einer Rente der obligatorischen Berufsvorsorge (BVG).

  • Wenn der Invaliditätsgrad mindestens 40% beträgt, ist die gleichzeitige Entrichtung einer BVG-Rente möglich.
  • Wenn die IV- und die BVG-Rente zusammen 90% des mutmasslich entgangenen Verdienstes übersteigen, wird die BVG-Rente gekürzt.
  • Bei Invalidität infolge eines Unfalls greift die berufliche Vorsorge in der Regel nicht, da die IV-Rente und die UVG-Rente zusammen oftmals 90% des versicherten Lohns ausmachen.
  • Bei krankheitsbedingter Invalidität wird die 90%-Schwelle mit der IV-Rente allein selten erreicht. Deshalb entrichtet die berufliche Vorsorge oftmals ergänzende Leistungen. Diese fallen je nach Vorsorgeplan des Arbeitgebers sehr unterschiedlich aus.

 

Beispiel: Ihre Mitarbeiterin erkrankt im Alter von 45 Jahren schwer

NETTOJAHRESEINKOMMEN CHF 50’000.-  ANMERKUNGEN
WÄHREND 24 MONATEN
Erwerbsausfallentschädigungen (EO) CHF 40’000.- CHF 50’000.- x 80 %
TOTAL I CHF 40’000.-
AB DEM 25. MONAT (sofern IV-Rente genehmigt)
a. IV-Vollrente nach Skala 44 CHF 23’952.- Anerkennung der Vollinvalidität
b. BVG-Rente (sofern IV-Rente genehmigt)) + CHF 11’770.- CHF 50’000.-
– Koordinationsabzug 26’460.-
koordinierter Lohn CHF 23’540.-
Je nach BVG-Plan eines dem L-GAV unterstehenden Arbeitgebers hat die versicherte Person bei HOTELA Anspruch auf min. 40% (max. 50%) des koordinierten Lohns,
also eine Rente von CHF 11’770.-
TOTAL II CHF 35’722.-  

 

5. Hilflosenentschädigung

Bei Invalidität besteht Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung, wenn die beeinträchtigte Person für alltägliche Lebensverrichtungen (Aufstehen, Essen, Waschen, Ankleiden usw.) dauerhaft die Hilfe Dritter oder persönliche Überwachung benötigt.

Für Anträge auf Entschädigung ist bei Hilflosigkeit infolge eines Unfalls in erster Linie die Unfallversicherung gemäss UVG zuständig.

Dies gilt auch für die Beantragung von Hilfsmitteln (beispielsweise Rollstuhl oder orthopädische Hilfsmittel) nach einem Unfall.

Das Sozialversicherungssystem der Schweiz basiert auf präzisen Koordinationsregeln, die für eine gerechte Abstimmung zwischen Risikoabdeckung und Leistungspflicht sorgen. Arbeitgebende müssen sich mit dem Nebeneinander von Invaliditätsversicherung, Unfallversicherung, beruflicher Vorsorge und Erwerbsausfallversicherungen gründlich auseinandersetzen, um ihre Mitarbeitenden zu schützen und um sie über die verschiedenen Lösungsvarianten informiert zu halten.

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